Bachgeschichten

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Am Bach spielt es sich wunderschön

Unter Pappeln

Ja der Welchentalbach!–- Da gab es eine Stelle, die wir Kinder ganz
besonders liebten, einen Spielplatz, wie ihn nur die Natur schaffen
kann. Wenn wir dort spielen wollten, sagten wir: „Wir gehen zu den
Pappeln. Auf einem Terrain von vielleicht 10 mal 10 Metern wuchsen
dort am Bach drei Pappeln, ein paar Buchen und Unterholz. vor allem
Haselnußsträucher. Ich nehme an, daß der Bach dort ursprünglich
einen Bogen durchlief, der begradigt worden war. Jetzt war dort nur
noch Wasser, wenn im Frühjahr bei Hochwasser die Schleuse
geöffnet wurde, um eine Überflutung der Straße zu verhindern.. Vom
ursprünglichen Bachbett war kaum noch etwas zu sehen, aber wenn
das Hochwasser sich wieder verlaufen hatte, verbrachten meine
Brüder und ich unsere ganze freie Zeit dort. In dem abgelagerten Sand
rings um die großen Pfützen bauten wir ganze Hafenanlagen. Unsere
Schiffchen schnitzten wir uns aus Kiefernrinde, mit Segeln aus großen
Blättern. Tagelang brauchten wir, genaugenommen wurden wir nie
damit fertig.
Oft versuchten wir auch, die Pappeln zu ersteigen, aber obwohl wir
gewandte Kletterer waren, gelang uns das nie, denn die Äste dieser
Bäume brechen leicht.
Im Sommer, wenn an der ganzen Steinhalde die Luft kochte, war es
hier erträglich, und wir kühlten uns in der etwas tieferen Stelle des
Wassers, die sich vor der Schleuse gebildet hatte, ab.
Immer wieder versuchten wir die mächtige Schleusenschraube zu
drehen, aber es gelang uns nie. Wie gerne hätten wir im Hochsommer
in den großen Pfützen gepanscht.
Während der Heuernte rasteten auch die Bauern gerne an diesem
schattigen Plätzchen und wenn wir beim Heuen mithalfen, durften wir
aus den großen Korbflaschen trinken und Speckbrot essen.
Immer neue Versionen von Schaukeln und Wippen bauten wir dort,
manchesmal landeten wir unsanft im Busch, und mußten erkennen,
daß eine Schnur, die unser Gewicht ohne weiteres zu halten schien,
beim ersten kräftigen Schwung riß. Im Unterholz konnte man
wunderbar Verstecken spielen. Manche Vogelkinderstube stöberten
wir dabei auf. Aber wir wußten, daß man die Vogeleltern bei ihrem
wichtigen Geschäft nicht stören darf, und zogen uns vorsichtig wieder
zurück.
Im Herbst, wenn das Vieh auf die Wiesen getrieben wurde, gesellten
wir uns zu den Hütebuben. Zu gerne hätten wir auch mal Kühe
gehütet, aber da man bei jedem Wetter raus mußte, war unsere Mutter
dagegen. Bei schlechtem Wetter waren die Pappeln der einzigst
geschützte Platz, und so konnte man dort immer Hütebuben finden.
Auf der Wiese daneben wurde Feuer gemacht, Kartoffeln geröstet, die
wir auf dem Acker ausgruben und im Bach wuschen.
In der weichen Erde konnte man so schön spachteln. Dazu haben wir
von den Haselnußsträuchern dicke Prügel abgeschnitten. Wenn man
diese am hinteren Ende haltend in die Erde schleuderte, blieben sie
stecken. Der nächste versuchte dann, mit seinem Spachtel der ersten
umzuwerfen. Weil ich ein Mädchen war, durfte ich nur selten
mitspielen, aber mein großer Bruder hat oft gewonnen.
Wenn die Herbstzeitlosen ihre zarten Kelche aus dem Boden streckten
und der Nebel schwer über den Wiesen lag, wußten wir, lange läßt der
Winter nicht mehr auf sich warten.
Zwischen den angefrorenen Halmen des Ufergrases suchten die
Vögel die letzten Samen zu erhaschen. Wir trauten uns nicht mehr so
einfach über den Bach zu springen, denn fehlten wir, so war uns ein
frostiges Bad sicher. Den einen oder anderen Eiszapfen versuchten
wir noch zu erwischen, wenn er gar so verführerisch in der Sonne
blitzte. Ansonsten spielten wir jetzt lieber im Haus.
Eiszapfen
Von der Schule nach Hause, auf dem Heimweg von der Dorfschule,
war der Bach mein Begleiter. Naturgemäß kam ich nur langsam
vorwärts. Zu viel gab es zu schauen.
Die Mündung in den Eschbach konnte ich nicht sehen. Erst wo die
Straße sich teilte, rechts runter zur Insel und geradeaus die Steinhalde
weiter, den Weg den ich eigentlich gehen sollte, war der Bach nicht
mehr durch Häuser versteckt. Manchmal bog ich auch gleich zur Insel
ab, aber heute war mal wieder der schwarze Hund am bellen, den ich
so fürchtete und von dem ich nie wußte, ob er nicht doch mal über den
Zaun kam.
Heute ging’s an dem Bauerngarten vorbei, von dessen sommerlicher
Pracht jetzt nichts mehr zu sehen war und an dem etwas
altersschwachen Schuppen. Danach konnte ich runter zum Ufer. Ein
alter Holunderstrauch neigte sich hier übers Wasser, in dessen
Schatten ich oft Forellen stehen sah. Ein paar Vögel hüpften um mich
herum. An dem Südhang war der Schnee ein wenig getaut und in der
weichen Erde konnten sie auf manch fetten Happen hoffen. Ein paar
Meter weiter führte ein schmaler Steg ans andere Ufer. Hier hätte ich
jetzt zur Insel hinüber können.
Oft tat ich das auch, um beim Schirk ‘reinzuschauen, unserem
Dorfzimmermann. Ich mochte so den Geruch nach frischem Holz.
Außerdem kannte ich ihn gut, war schon oft mit meinem Vater bei ihm
gewesen.
Jetzt war dieser Steg dich verschneit, auf dem rutschigen Holz mußte
man sehr vorsichtig sein. Da sah ich ihn, den wohl schönsten und
größten Eiszapfen meines Lebens. Wohl halb so groß wie ich, glänzte
er im Sonnenschein. Den mußte ich unbedingt haben! Nur wie kam
man da rann? Erst legte ich mal meinen Schulranzen in den Schnee,
um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Wenn ich vielleicht……., ja so
mußte es eigentlich gehen! Vorsichtig legte ich mich auf den Bauch.
Mit einer Hand am Geländer, damit ich ja nicht die Balance verlor,
angelte ich vorsichtig nach dem Prachtstück. Noch ein bißchen vor, da
hatte ich ihn in der Hand und richtete mich behutsam auf. Da, was war
das? Eine nasse Brühe rann mir die Beine herab. Vor lauter Eifer hatte
ich vergessen auf mein Kleidchen zu achten. Oh je, bei nassen
Sachen war meine Mutti unerbittlich, das hieß, für einen ganzen
Nachmittag ins Bett, damit wir nicht krank wurden. Wir waren aber
auch sehr oft malade. Was sollte ich jetzt tun?
Ein Stückle weiter, am Ende der Insel , stand noch ein alter Schuppen,
schon ganz silbern von der Sonne, die ihn beschienen hatte. Er war
ganz warm, und als ich mein Kleidchen an ihm rieb, wurde es wirklich
ein bißchen trockener. Trotzdem würde Mutti sofort merken was
passiert ist. Ganz verzweifelt rieb ich es noch heftiger an der Wand. „
Was machst Du denn da? So geht Dein Kleidchen doch kaputt!“
Erschrocken drehte ich mich zu der fremden Frau um. Sie blickte mich
freundlich an. Trotzdem war ich höchst mißtrauisch. Meine Eltern
sagten uns immer wieder, daß nicht alle Erwachsenen gut sind, und
ich persönlich war mir nicht so sicher, ob es nicht doch noch ein paar
Hexen gibt. Ganz genau schaute ich sie mir an, also nach einer Hexe
sah sie nicht aus. So erzählte ich ihr meinen Kummer. „Das ist doch
nicht so schlimm, komm mal schnell mit in meine Küche. Den
Eiszapfen würde ich draußen lassen!“
So wie Kinder sind, hatte ich meine Angst ganz vergessen und folgte
neugierig ins Haus. „Zieh mal Dein Kleidchen aus“, meinte sie und
ging zum Herd. Dort holte sie ein paar Kohlen aus dem Herd und tat
sie in ein Bügeleisen. Sowas hatte ich noch nie gesehen, denn das
meiner Mutter war zwar alt, aber elektrisch. Ganz schnell war mein
Kleidchen trockengeplättet.
Zu Hause zeigt ich stolz meinen Eiszapfen. Von dem Malheur erzählte
ich nichts. Meine Mutter wunderte sich nur , daß ich eine Frau
jedesmal freundlich grüßte, die sie nicht kannte. Hin und wieder auf
dem Nachhauseweg oder in der Freistunde besuchte ich meine neue
Freundin. Ihr Haus war hochinteressant, denn dort gab es keine
Elektrizität.

Im Moosgrund

Diese Geschichte könnte auch beginnen: „Es war einmal……..“.
Mein Zwillingsbruder und ich waren im „ Hänschen-klein-Alter“, so
nenne ich das Alter, in dem Kinder ihre etwas weitere Umgebung
erforschen. Jedenfalls hatten wir beschlossen , so weit ins Welchental
zu gehen, wie es nur ging.
Auf der rechten Seite des Tales kommt man erst an einem Bauernhof
vorbei, bzw. Der Weg geht mitten hindurch. Den kannten wir schon,
und trotzdem erschraken wir jedesmal über die Truthähne, die uns mit
ihrem lauten „Rukerukuru“ entgegen stürmten. Ich weiß noch genau,
es machte mir Angst, faszinierte mich aber auch. Der Hund an der
Kette gab mal wieder furchtbar an, aber packen konnte er uns nicht.
Hinter dem Hof bog der Weg wieder ab, zu der kleinen Straße auf der
linken Seite des Tales. Wir hätten gleich auf ihr vom Kreuz aus gehen
können, der Weg wäre kürzer gewesen. Aber ist es nicht schön, fest
an der Hand des Bruders und wissend, es kann gar nichts passieren,
sich ein wenig zu fürchten?
Das Sträßchen führte am Bach entlang. Dessen Gemurmel hörten wir,
sahen aber kaum etwas, sosehr war er von Büschen und dem hohen
Gras verdeckt.
Das Tal wurde enger, und die Wiesen wichen immer mehr dem Wald.
Beim Forsthaus teilte sich der Weg. Links den kannten wir, den waren
wir schon mit den Eltern gegangen. Den mußte man auch gehen,
wenn man zu der Wiese wollte, wo wir immer Schlitten fuhren. Weiter
führte er auch zum Roßkopf.– Nein, wir wollten den anderen gehen.
Das Tal wurde immer enger. Bis hierher kam die Sonne nur noch über
die Mittagszeit, und uns fröstelte ein wenig. Es war auch ein wenig
unheimlich, so ganz alleine. Uwe turnte auf den Baumstämmen herum
und machte den Kasper, damit ich nicht merken sollte, daß ihn auch
gruselte. Wieder fest an der Hand des anderen marschierten wir
weiter.
Der Waldweg war jetzt nur noch ein tiefer Einschnitt im Berg. Außer
dem murmelnden Bächlein und einigen Vogelstimmen war nichts mehr
zu hören. Wir waren ganz alleine.
Sollten wir nicht lieber umdrehen?
Um einen besseren Überblick zu bekommen, kletterten wir auf den
rechten Wall, der den Weg vom Bach trennte.
Oh wie hübsch! Wie durch ein Fenster drang ein Sonnenstrahl durch
das Dach des Waldes und beleuchtete ein Moospolster, etwa so groß
wie ein kleines Zimmer. Mittendurch rann ein kleines Bächlein, nur ein
kleines Rinnsal, gluckerte über Steine, versteckte sich unter einem
Farn und blitzte in der Sonne wie Silber. Hier wollten wir bleiben In
diesem kleinen Garten Gottes, der uns von Menschenhand gänzlich
unberührt erschien.
Nachdem wir eine Weile nur so im Moos gesessen hatten, uns der
Schönheit dieses Fleckchens bewußt, ohne sie benennen zu können,
versprachen wir uns, niemanden und nie jemand etwas davon zu
erzählen. Dieses Plätzchen wollten wir ganz für uns behalten.
Wessen Idee es war, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls bauten wir aus
Zweigen, Blättern und Moos Miniaturhäuschen. Den ganzen Sommer
über kamen wir immer wieder hierher. Bevölkerten unsere Häuschen
mit Püppchen aus Eicheln und Malvenblüten, legen Wege aus weißen
Kieseln an, pflanzten hier und da ein Tännchen oder sonst ein
Bäumchen. Es war wie eine kleine Zauberwelt die das entstand. Ganz
behutsam gingen wir mit Vorhandenem um.
Ich wollte, den Menschen der ganzen Welt würde es gelingen, so im
Einklang mit der Natur zu bauen und ihre Schönheit zu bewahren. So
war es sicher gemeint von unserem Schöpfer, als er den Menschen
gebot:“ Und machet euch die Welt untertan.“

Muttertag

Ganz früh am Tag, im Morgengrauen, wurden wir von Ulf, meinem
ältesten Bruder, geweckt. „Pst, seid doch leise!“ Uwe ist über einen
Stuhl gestolpert. Normalerweise wäre jetzt einer meiner Eltern
nachschauen gekommen, wer da so früh, solchen Lärm machte. Aber
sie wußten ja auch, daß Muttertag war, und so stellten sie sich taub.
Auch , als mir noch die Schuhe runterfielen, und die Tür etwas laut ins
Schloß klappte.
Wir trugen unsere Kleider runter ins Erdgeschoß, in die Wohnküche,
um uns dort anzuziehen. Mutti hatte uns wie immer die
Sonntagskleider rausgelegt, und wir zogen sie ganz selbstverständlich
an. Heute frage ich mich, warum sie das am Samstag vorm Muttertag
auch so macht, alte Klamotten wären angebrachter gewesen. Unsere
Sachen waren größtenteils weiß. Genäht aus alter Bettwäsche. Für
meine Kleidchen nahm Mutti Rüschenkissen. Wir hatten 1953 und
man konnte zwar schon vieles wieder kaufen, aber mein Vater als
freischaffender Künstler hatte so wenige Jahre nach dem Krieg nur
selten genug Aufträge, um seine Familie sorgenfrei zu ernähren.
Wir zogen uns also an und schlichen uns leise aus dem Haus. Wir
wollten Blumen für den Muttertag suchen. Tags zuvor hatten wir
jeweils ein Bild gemalt und „ZUM MUTTERTAG“ d’raufgeschrieben.
Bei Ulf stand noch ein Gedicht mit dabei, aber er war ja auch schon im
dritten Schuljahr. Wir als Schulanfänger hatten schon mit “ZUM
MUTTERTAG“ genug Mühe.
Wir wollten zum Welchental. Dort am Waldrand, hinter dem Bauernhof
nahe beim Bach wuchsen Maiglöckchen.
Putzmunter trabten wir die Steinhalde entlang, Richtung Welchental.
Die Straße bog mit dem Bach links ab. Nach ein paar Minuten wollten
wir auf der Brücke, die zum Hof gehörte, den Bach überqueren, um
dann am rechten Ufer über eine Wiese gehen. Das ging nicht! Sie
stand total unter Wasser, und wir hatten Sandalen an.
So liefen wir über die Brücke zurück. „ Weiter oben finden wir einen
Baumstamm, der breit genug zum d’rüberlaufen ist“, versicherte Ulf. Ja
für ihn! Uwe und ich hatten Angst, so gut balancieren konnten wir noch
nicht. „Ihr Angsthasen, dann suche ich die Maiglöckchen halt alleine!
“Damit wandte er sich ab. Nun standen wir Zwei da! Endlich
entschlossen wir uns, hinüber zu rutschen. Das ging auch ganz gut.
Aber oh je, der feuchte Stamm hatte grünschwarze Spuren auf
meinem Kleidchen und Uwes Hosenboden hinterlassen. Beim Versuch
sie mit Bachwasser abzuwaschen, wurde das Malheur noch
schlimmer. Was sollten wir machen? Ulf war bereits aus unserem
Gesichtsfeld , und wir rannten hinter ihm her. Da war er und der ganze
Waldrand voller Maiglöckchen. Die Sonne streckte ihre ersten Strahlen
in das Tal. So wunderschön!
Wir pflückten so viele Blümchen, wie unsere kleinen Hände halten
konnten.
Wie sollten wir nur wieder zurück? Noch mal über den Baumstamm?
Da weigerten wir uns. „Mit Euch Babys hat man aber auch nur Ärger!“
Als Ältester entschied er, daß wir es am Waldrand entlang und dann
am Bauernhof vorbei versuchen sollten.
Aber so ärgerlich wie er war, lief er viel zu schnell und wir Kleinen
purzelten nur so hinter ihm her.
Ulf wollte dann noch auf eine Wiese, die auf unserem Heimweg lag,
weil es dort so schöne Margeriten und Glockenblumen gab.
Da mein Kleidchen eh hin sei, könnte ich alle Maiglöckchen darin
tragen, damit wir die Hände für neue Blumen frei hatten, wurde von
beiden Buben entschieden. So wurde es dann auch gemacht.
Da auch diese Wiese bei jedem länger anhaltenden Regen
überschwemmt wurde, war sie ziemlich naß. Jeder von uns trat mal in
ein Matschloch. Na ja, jedenfalls sahen wir zum Schluß alle wie kleine
Ferkel aus. Das beunruhigte uns aber nur wenig. Bei so vielen ,
schönen Blumen war Mutti bestimmt nicht böse.
Zu Hause wuschen wir uns Gesicht und Hände, holten unsere
Bildchen aus dem Versteck und weckten unsere Eltern.
Mutti verlor nicht ein Wort über unsere Kleider, sondern freute sich so,
wie eine liebe Mutter das tut am Muttertag. Stillschweigend legte sie
uns neue Kleider heraus (Sie hatte noch keine Waschmaschine!)
Dann gab es Frühstück. Bis zum Mittag hielten wir unser Versprechen,
immer brav im Haushalt zu helfen. Ja und dann? Ja dann war alles wie
immer.

Zarte Gefühle

Also wenn man 12 Jahre alt ist, ist das Leben wirklich nicht leicht,
zumindestens nicht als einziges Mädchen zwischen drei Brüdern. Ich
war sauer! Oder doch mehr unglücklich?
Trotzdem fühlte sich das kalte Bachwasser an meinen Füßen
angenehm kühl an, an diesem heißen Sommertag und beruhigte mich
ein wenig.
Mutti hatte mich mal wieder verdonnert, auf meinen kleinen Bruder
aufzupassen. Warum immer ich? Ich mochte ihn ja, den Kleinen. Alle
mochten ihn, fast ein bißchen zu sehr. So kam er immer mit allem
durch, wenn er nur lange genug bettelte. . Oft auf meine Kosten!
Heute hatte er sich in den Kopf gesetzt, mit mir unbedingt einen Stau
im Bach zu bauen, um das kleine Wasserrad zu testen, das ich
gestern mit ihm gebastelt hatte. So wird man für seine guten Taten
bestraft! Jedenfalls war ich der Meinung, Staudämme am Bach bauen
lernen kleine Brüder von großen Brüdern und nicht von einer
Schwester. Wasserräder bauen eigentlich auch, aber er wollte immer
alles unbedingt mit mir machen! Sehr wahrscheinlich, weil ich einfach
geduldiger, sanfter und liebevoller mit ihm umging.
Das Problem war, ich hatte etwas ganz anderes vor. Killys, ein
kinderloses, älteres Ehepaar, bei denen ich gerne einen großen Teil
meiner Freizeit verbrachte, hatten mich zum Kaffee eingeladen, weil
ich jemanden kennenlernen sollte, bzw. weil sie mich vorführen
wollten. Letzteres konnte ich normalerweise gar nicht leiden, aber die
beiden waren so lieb zu mir, und stolzer hätten sie auf mich auch nicht
sein können, wenn ich ihr eigenes Kind gewesen wäre. Ich genoß den
Einzelkindstatus, den ich dort hatte, und außerdem durfte ich Herrn
Killy beim Zusammenbauen, Reparieren und Stimmen von Klavieren
und Flügeln helfen. Er sagte immer, wenn er ein Lehrling finden
könnte, der nur halb so geschickt wie ich sei, würde er ihn sofort
einstellen.
Meinen Eltern paßte diese Freundschaft nicht! Erst als ich erwachsen
war erfuhr ich warum. Sie machten sich Sorgen, weil ich ihrer Meinung
nach viel zu viel mit einem ihnen unbekannten Mann zusammen war.
Einige Jahre später wäre es sicher gut gewesen, sie hätten in dieser
Hinsicht ihren Bekanntenkreis etwas genauer unter die Lupe
genommen. Jedenfalls war ihre Sorge in diesem Fall unbegründet.
Dort bei meinen Freunden hatte ich sein wollen. Statt dessen saß ich
unterhalb ihres Grundstücks am Bach und da Jörg zu, wie er sich an
seinem Wasserrädle freute, das sich munter an der Stelle drehte,
durch die das Wasser noch abfließen konnte. In dem beruhigten
Wasser hinter dem Stau ließ er Papierschiffchen schwimmen. Immer
wenn eines voll Wasser gesogen war, faltete ich ihm ein neues aus
Zeitungspapier. Er lachte mich glücklich und dankbar an und babbelte
ununterbrochen auf mich ein. Ich hörte ihm aber nur halb zu, mit
meinen Gedanken war ich ganz woanders.–—
Während wir den Stau bauten hatte ich schon bei der Sache sein
müssen, denn nur wenn die Steine richtig gesetzt, und die Grassoden
fest zwischen den Steinen verankert sind, stürzt die Geschichte nicht
gleich wieder ein.–-Was das wohl für ein Besuch war, den ich
kennenlernen sollte? Ein mir fremder weißer VW stand etwas oberhalb
der Uferböschung unter der Pappel. FR-AR-80, also eine Freiburger
Nummer. Weiter kam ich mit meiner Raterei nicht. Inzwischen war es
bald Abend, die Sonne verschwand schon hinter den Häusern.
Da sah ich, daß sich der Besuch meiner Freunde verabschiedete und
die Treppe herunterkam. Aber nur den ersten Absatz auf der Treppe.
Als Killy im Haus verschwunden waren, rannte er über den Rasen
neben der Treppe, setzte mit einem Schwung erst über die erste, dann
die zweite Mauer herunter, auf die Straße, mit einem Satz über die
Fahrbahn und mit noch einem über den Bach, und stand direkt vor mir!
„Warum bist Du nicht zum Kaffee gekommen, Gunde, Du warst doch
eingeladen?“ „Aber es ist nett, daß ich Dich doch noch kennen lerne!
Man hört ja nur lauter nette Sachen über Dich! Ich bin der neue Vikar
der Gemeinde. –—Ich war einfach sprachlos und starrte den jungen
Mann, der da so direkt vor mir stand, einfach nur an.
Was war mit mir los? Was ging von ihm aus, was mich so faszinierte,
von diesen dunklen Augen, die mich so freundlich anlächelten? Ich
war gänzlich verwirrt und ein bißchen verlegen. Dann war da auch
noch ein neues Gefühl, das ich mir nicht erklären konnte und das sich
anfühlte , wie hundert Schmetterlinge im Bauch.
Nach mehreren freundlichen Ermutigungen fand ich endlich die
Sprache wieder, um zu erzählen, was mich abgehalten hatte, am
Kaffeekränzchen teilzunehmen.
Nach ein paar herzlichen Worten stieg er ins Auto und fuhr weg.
Ich machte mich auch auf den Heimweg. Irgend etwas besonderes
war mit mir geschehen. Ich verstand nicht was, träumte nur lächelnd
vor mich hin. Das Geplapper meines Brüderchen perlte von mir ab,
aber seine kleine Hand lag warm in der meinen, und ich spürte, ich
hab’ ihn lieb, den Kleinen!Es war doch noch ein guter Tag geworden.